Stone

Selig seien die, die die Bienen summen hören

DVD-Besprechung zuerst erschienen bei schnitt.de

Ein Summen, ein Knallen, Stille. Was für die meisten von uns Erlösung bedeuten würde, nämlich die Beseitigung der Gefahr eines Bienenstichs, wird in »Stone« zum Sinnbild für Sünde und ewige Sühne schlechthin: Robert De Niro schmort im Vorhof zur Hölle auf Erden, Edward Norton gedeiht im Paradies und Milla Jovovich schwankt als gefallene Lichtgestalt irgendwo dazwischen.

Die sogenannte, in Amerika durchgeführte »Sam-Stone-Studie« konnte 1995 die allzu leichte Beeinflussbarkeit von Vorschulkindern nachweisen. Über das Erzählen von Geschichten, die den fiktiven Sam Stone zur Hauptperson haben, und vor allem durch die sich darauf beziehenden Suggestivfragen, ließen sich beliebige Vorurteile über Sam Stone in den Kinderköpfen manifestieren. Diese glaubten im Nachhinein vermeintliche Ereignisse mit Stone als ›Täter‹ leibhaftig bezeugen zu können, welche nie stattgefunden haben. Die Glaubwürdigkeit von Kindern als Zeugen steht damit prinzipiell und nachweislich in Frage. Wie könnte Sam Stone wohl Wiedergutmachung erfahren?

Gerald Creeson (Edward Norton), der das Haus seiner Großeltern samt seiner Bewohner niederbrannte, der bereits acht Jahre seiner Haftstrafe abgesessen hat, und der nun auf Bewährung hofft, will lieber ›Stone‹ genannt werden. Das sind seine allerersten Worte und auch ohne das Vorwissen um die »Stone-Studie« spüren wir, dass wir hier nie so genau wissen werden, wann wir es tatsächlich mal mit der Wahrheit zu tun haben. Stone – ein eigentlich Unschuldiger? Wenn es da nicht diese Geschichten gäbe. Auch Gerald ›Stone‹ Creeson erzählt Geschichten: von seiner jugendlichen Tat, von seiner unglaublichen Wandlung, und von seiner mal betörenden und mal irren Frau, der Kindergärtnerin Lucetta (Milla Jovovich) …

Diese Geschichten Creesons bringen den Stein ins rollen. Denn diese Geschichten bekommt Jack Mabry (Robert De Niro) zu hören, der über Creesons Wiedereingliederungstauglichkeit und also dessen Bewährung entscheiden soll. Mabry selbst steht kurz vor seiner Rente, ist ein alter, müder Mann, mit einem Herz aus Stein. Routiniert will er seine letzten Altlasten abarbeiten, um ruhigen Gewissens in den Sonnenuntergang gen Golfplatz abzutrotten. Doch mit dem ruhigen Gewissen ist es, dank der beiden Creesons, schon bald vorbei. Zumal, Jacks Ehe mit der tiefgläubigen Madylyn ist schon seit Jahren eine Lüge und basiert nur auf Erpressung, wie uns die eindringliche Episode aus den jungen Jahren der Mabrys, ganz zu Anfang des Films erzählt: Madylyn will Jack verlassen, da packt er die schlafende Tochter, hält sie aus dem Fenster und droht sie fallen zu lassen, ließe Madylyn ihrer Äußerung entsprechend Taten folgen. Madylyn verspricht zu bleiben, Jack legt die Kleine wieder hin. Madylyn schließt das Fenster und unabsichtlich tötet sie dabei eine Biene, deren penetrantes Summen abrupt verklingt. »Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein …«

Penetrante Klänge, und solche die wir nicht hören, sind ein omnipräsentes Motiv in »Stone«. Nicht nur meint Creeson zu wahrer, spiritueller, innerer Ruhe über die sonst unbeachteten Klänge zu finden, über das Summen einer Biene etwa, ein des Öfteren von ihm genanntes Beispiel! Wie als negativer Gegenpol dazu, legt sich wieder und wieder der kirchliche Radiosender, den die Mabrys unentwegt hören, ob im Auto oder Zuhause, mit seinen überlauten Heilsversprechen über das Bild. Die blanke Paranoia tönt aus diesen Mittelwellen, zu konservieren das prüde Zerrbild von Sitte und Anstand. Einer wie Stone – zum Glück, und zu Recht und hoffentlich für immer hinter Mauern! Er sagt, er höre ein Summen. Die Stimme des Herrn – ein Bienen-Summen? Die Mabrys jedenfalls hören dieses Summen nicht. Unter all der Aufregung liegt ein spröder und gleichsam hypnotischer Score, der deutlich an Henryk Mikołaj Góreckis 3. Sinfonie erinnert. (Diese hat immerhin Marias Trauer um ihren gekreuzigten Sohn zum Thema, sowie Gebetszeilen von den Wänden eines Gestapo-Kellers.) »Summet für ihn, ihr kleinen Singvögel Gottes«, vibriert es quasi durch den gesamten Filmkörper und Gerald ›Stone‹ Creeson begreift sich tatsächlich mehr und mehr als ›Stimmgabel Gottes‹ …

Bei all der Symbolik scheinen sich Autor Angus MacLachlan und Regisseur John Curran aber nicht um eine Heilsgeschichte zu bemühen, sondern zeichnen vielmehr ein fragiles Sittenbild (süd)amerikanisch-kleinbürgerlicher Landidylle, dessen Konzept von Freiheit nur ein trügerisches ist: Jack Mabry, mit seinem Haus, seinem rechtschaffenen Beruf und seinem Ansehen, symbolisiert die Freiheit lediglich, ist in Wahrheit aber in ihm fremden Umständen gefangen. Während es Gerald Creeson gelingt, (innere) Freiheit zu empfinden und befreit zu leben, trotz eingesperrt seins hinter dicken, hohen Mauern. So scheint es bald, dass es Creeson gar egal ist, ob er frei kommt oder nicht. Er hat nichts zu verlieren. Und Jack Mabry? Jack Mabry wirkt bisweilen wie der nur scheinbar würdevoll gealterte Travis Bickle, der zwar bekam, wonach er verlangte – »Eines Tages wird ein schwerer Regen kommen und den ganzen Dreck von den Straßen spülen.« (Taxi Driver, 1976) – der aber einsehen muss, dass das Leben danach auch keinen Deut besser geworden ist. Er ist und bleibt ein schwacher Geist, anfällig für die Manipulationen, zum Beispiel eines Stone.

Mit »Stone« ist John Curran ein starkes Drama gelungen, das ab dem ersten Moment zu fesseln vermag, ohne einen klassischen Spannungsbogen über die Heldenentwicklung bauen zu müssen. Auch die bisweilen unkonventionelle Kameraarbeit sowie Montage tragen ihren Teil dazu bei, dass »Stone« einen nicht unberührt lässt. Robert De Niro, Edward Norton, Milla Jovovich und auch Frances Conroy glänzen allesamt als einsame Seelen am falschen Ort zur falschen Zeit, die das ihnen Möglichste daraus zu machen versuchen. »Stone« ist charaktergetriebene Hochspannung mit schwerwiegender Atmosphäre bis zur letzten Minute.

»Du wirst nicht erraten, wer mich letzte Nacht besucht hat, [Pause] Genau, Sam Stone! …«


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